Mittwoch, 20. November 2013

Die Notfallstation des "Al-Sheikh Zayed Hospital"

Zwei Wochen lang war ich intensiv mit den Mobilen Kliniken von PMRS unterwegs und befasste mich in diesem Rahmen mit der “Primary Health Care” also der Basisgesundheitsversorgung, die bei uns durch die Hausärzte übernommen wird. Nun interessierte es mich jedoch auch einen Einblick in die “Secondary Health Care” zu erhalten, weshalb ich mich um ein Kurzpraktikum auf der Notfallstation des Ramallah Hospitals bemühte. Da die Palestinänsische Autonomiebehörde nur limitierte Mittel zur Bereitstellung einer umfassenden Gesundheitsversorgung hat, nicht zuletzt weil das Geld gerne in “wichtigere Bereiche” oder eigene Taschen fliesst, war es für mich spannend zu sehen, an welchen stellen Defizite vorhanden sind, die unser Gesundheitssystem selbstverständlich sind.
Mittels ein wenig “Vitamin B” befand ich mich drei Wochen nach Ankunft im Büro von Dr. Samer Saliba, Chef des Emergency Rooms des “Sheikh Zayed Hospitals”. Das “Al-Sheikh Zayed Hospital” ist Teil des grössten medizinischen Komplexes der Westbank, bestehend aus fünf Krankenhäusern mit jeweiliger Spezialisierung in Innerer Medizin, Pädiatrie, Chirurgie, Notfallmedizin und Hämatologie. Dr. Saliba begrüsste mich freundlich und schwärmte mir von seinem unvergesslichen Besuch in Bonaduz vor. Meinen verwirrter Gesichtsausdruck, da der Name Bonaduz in meiner schweizer Geografie nicht vorkam, brachte ihn total aus dem Häuschen und er versprach mir am nächsten Tag seine Fotos mitzubringen um mir ein wenig “die Schweiz zu zeigen” - guter Start!
Danach führte er mich durch die verschiedenen Bereiche des Krankenhauses, wobei eine Abteilung mir besonders in Erinnerung blieb. Er zeigte auf einen Berg von gigantischen “Kisten” die in einem halbfertigen Raum gestapelt waren: “ dies ist unser MRI”, erklärte er stolz. “Ein Geschenk von Präsident Mahmud Abbas. Nächsten Monat ist es betriebsbereit. Dann können wir endlich Patienten vor unnötiger Strahlenbelastung schützen und in spezifischen Bereichen genauere Diagnosen stellen als mit dem CT. MRI-Geräte sind in der Westbank zwar vorhanden aber nur in Privatkliniken und eine Untersuchung kommt die Patienten deshalb oft teuer zu stehen.” Ich liess mir diese Information durch den Kopf gehen und versuchte mir die Arbeit des Unispital ohne umfassende Bildgebung vorzustellen. Vielleicht würden die Leute es dann auch eher mit dem Überbegriff “Slaughterhouse” bezeichnen, wie es die Palästinenser hier tun.
Zuletzt gingen wir durch die von Security bewachte Schwingtüre und gelangten in die Notfallstation im Stil der TV-Serie “Emergency Room”. In der Mitte eine Insel, wo sich Ärzte und Pflegepersonal für wenige Sekunden vor den Familienmitgliedern der Patienten in Sicherheit bringen können, um mit gekonntem 1-Fingersystem die Diagnose laut zitierend in den Computer einzutragen. Rundherum Kabinen mit Schragen getrennt durch Vorhänge, die nach Ansicht der “Zimmernachbarn” jedoch eher zur Dekoration dienten. “Dr. Saliba” kam gar nicht erst gross zum erklären, da er schon von allen Seiten mit Fragen von Patienten bombardiert wurde und auch ich blieb nicht verschont, wodurch ich im Verlauf der Woche gezwungenermassen “Ana misch doctora” (Ich bin nicht Ärztin), “Barefisch” (Ich weiss nicht) und weitere nützliche Entschuldigungen meinem Arabischwortschatz beifügte.

Die Arbeit im Krankenhaus war extrem spannend und ungewohnt für mich. Und auch meine Anwesenheit war ungewohnt für die Ärzte und Pfleger. Zwar ist die ganze medizinische Terminologie auf Englisch, jedoch sprechen viele Ärzte ausser dieser Begriffe kein weiteres Englisch. So viel es mir oftmals schwer mit meinem deutschen Wortschatz vorallem die Abkürzungen zu verstehen und wenn ich dann genaueres Wissen wollte zu gewissen Krankheitsbildern, konnten viele nicht weiter erklären. Glücklicherweise fand ich jedoch zu Beginn einige tolle Ärzte die sich die Zeit nahmen und in gutem Englisch und mit aufschlussreichen Zeichnungen mir gerne erklärten. Ausserdem liessen sie mich Blutproben nehmen (von wegen Vakuumröhrchen, Desinfektionsmittel und Abbindgurte, alles einfach, improvisiert und hmmm für unsere Verhältnisse ziemlich unhygienisch und unter wenig Privatsphäre) und ich durfte sogar meine ersten Stiche nähen!! Von Lungenentzündungen, Herzinfarkte und Asthma über Hernien und Beinbrüche bis zu Psychosen traf man alles auf der Notfallstation an. Hier einige Details die mir besonders in Erinnerung blieben:

  • Das Sterilium brachte ich aus meiner Reiseapotheke mit ins Krankenhaus, da ich fast nirgends welches finden konnte.
  • Trotz dem Schild das beim Eingang das Mitbringen von Waffen in den ER verbietet – ich habe noch nirgends so viele Waffen und so viel Polizei gesehen, meist als Begleitung von Gefangenen, die hier behandelt wurden.
  • Sowas wie Mittagessen oder Freizeit exisitiert bei den Ärzten nicht. Die einzigen Pausen die Eingehalten werden sind Rauchpausen, denn fast alle Ärzte rauchen hier!
  • Die Behandlung eines Patienten beinhaltet Beratung, Beruhigung und Abwimmeln seiner gesamten Familie, denn geht man hier ins Krankenhaus, begleiten einem mindestens drei Familienmitglieder (anfangs, Tendenz steigend im Verlauf).
  • Die meisten Krankheiten treten hier in fortgeschritteneren Formen auf, da die Leute warten und warten und warten... bis sie mal zum Arzt gehen.
  • RTA steht für “Road Traffic Accident” und ist genaugenommen die Ursache für den Besuch ca jedes 3. Patienten im ER.
  • Viele Ärzte sprechen perfektes Russisch, da sie in Russland oder der Ukraine studiert haben, die andere Hälfte hat in Ägypten studiert.
  • Ein Arzt im Ramallah Hospital verdient monatlich ca 1200 CHF, die Lebensunterhaltskosten sind teilweise vergleichbar mit Deutschland
  • Die meisten Ärzte haben ein Teil ihrer Ausbildung im Ramallah Hospital absolviert, da dies das grösste Krankenhaus mit den intensivsten Fällen ist.
  • Komplizierte Operationen, z.B. Im Bereich Neurochirurgie müssen nach Israel transferiert werden, wegen fehlendem Equipment und daher auch fehlender Erfahrung der Spezialisten.
  • Exzessives Shisha-rauchen (wie das hier praktisch jeder macht) wird grosszügig nicht als Risikofaktor für Lungenerkrankungen erachtet.

Die Woche im “Al-Sheikh Zayed”- Krankenhaus war eine spannende Erfahrung für mich. Oftmals ging es sehr intensiv und chaotisch zu und her, natürlich auf arabisch, weshalb es für mich schwierig ist eine objektive Beurteilung wahrzunehmen. Sehr beeindruckt hat mich das Wissen der jungen Assistenzärzte, die jegliche Differentialdiagnosen und Symptome der Krankheitsbilder aufzählen konnten. Frustrierend war für mich zu sehen, dass das gute medizinische Knowhow sich gegen fehlendes Equipment oftmals nicht durchsetzten kann. Der Umgang mit den Patienten ist teilweise sehr schwierig, da diese ein fehlendes Gesundheitsverständnis haben und deshalb eher auf die anwesenden Familienmitglieder vertrauen als auf die Ärzte. Aber auch von Seiten der Ärzte kommt es durch die schwierigen Arbeitszumstände, fehlende Sensibilisierung für das Konzept ihrer Patienten und Zeitdruck zu einem autoritären und barschem Auftreten, was nicht hilfreich ist. Einmal mehr habe ich gesehen wie sich die Schwierigkeiten der israelischen Besatzung aber auch der Korruption der palästinensischen Regierung in jeglichen Bereichen manifestiert. Solange sich diese Situation nicht ändert ist es dem palästinensischen Gesundheitssystem nicht möglich ihre gebildeten und engagierten Ärzte zu halten, wodurch weiterhin viele Spezialisten versuchen ins Ausland abzuwandern, da die Job und Lebensstandard dort lukrativer ist. Die Leittragenden sind schlussendlich wie zumeist die einfachen Leute, die sich keine Privatklinik leisten können.

Beim Rausgehen werfe ich einen letzten Blick auf die drei jungen Männer, die mich nun jeden Morgen stumm von ihren Plakaten begrüsst haben – Opfer einer israelischen Razzia, die mitten in der Nacht das Refugee-Camp nebenan gestürmt haben und dabei mehrere Leute verletzt und 3 Menschen getötet haben. Die Ärtze haben mir davon berichtet: “wie im Krieg”, haben sie gesagt. Erinnert ihr euch wo Ramallah in meinen letzten Eintrag über Area A, B, C lag? Genau, Area A – volle palästinensische Kontrolle... alles nur Theorie!

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