Mittels ein wenig “Vitamin B”
befand ich mich drei Wochen nach Ankunft im Büro von Dr. Samer
Saliba, Chef des Emergency Rooms des “Sheikh Zayed Hospitals”.
Das “Al-Sheikh Zayed Hospital” ist Teil des grössten
medizinischen Komplexes der Westbank, bestehend aus fünf
Krankenhäusern mit jeweiliger Spezialisierung in Innerer Medizin,
Pädiatrie, Chirurgie, Notfallmedizin und Hämatologie. Dr. Saliba
begrüsste mich freundlich und schwärmte mir von seinem
unvergesslichen Besuch in Bonaduz vor. Meinen verwirrter
Gesichtsausdruck, da der Name Bonaduz in meiner schweizer Geografie
nicht vorkam, brachte ihn total aus dem Häuschen und er versprach
mir am nächsten Tag seine Fotos mitzubringen um mir ein wenig “die
Schweiz zu zeigen” - guter Start!
Danach führte er mich durch die
verschiedenen Bereiche des Krankenhauses, wobei eine Abteilung mir
besonders in Erinnerung blieb. Er zeigte auf einen Berg von
gigantischen “Kisten” die in einem halbfertigen Raum gestapelt
waren: “ dies ist unser MRI”, erklärte er stolz. “Ein Geschenk
von Präsident Mahmud Abbas. Nächsten Monat ist es betriebsbereit.
Dann können wir endlich Patienten vor unnötiger Strahlenbelastung
schützen und in spezifischen Bereichen genauere Diagnosen stellen
als mit dem CT. MRI-Geräte sind in der Westbank zwar vorhanden aber
nur in Privatkliniken und eine Untersuchung kommt die Patienten
deshalb oft teuer zu stehen.” Ich liess mir diese Information durch
den Kopf gehen und versuchte mir die Arbeit des Unispital ohne
umfassende Bildgebung vorzustellen. Vielleicht würden die Leute es
dann auch eher mit dem Überbegriff “Slaughterhouse” bezeichnen,
wie es die Palästinenser hier tun.
Zuletzt gingen wir durch die von
Security bewachte Schwingtüre und gelangten in die Notfallstation im
Stil der TV-Serie “Emergency Room”. In der Mitte eine Insel, wo
sich Ärzte und Pflegepersonal für wenige Sekunden vor den
Familienmitgliedern der Patienten in Sicherheit bringen können, um
mit gekonntem 1-Fingersystem die Diagnose laut zitierend in den
Computer einzutragen. Rundherum Kabinen mit Schragen getrennt durch
Vorhänge, die nach Ansicht der “Zimmernachbarn” jedoch eher zur
Dekoration dienten. “Dr. Saliba” kam gar nicht erst gross zum
erklären, da er schon von allen Seiten mit Fragen von Patienten
bombardiert wurde und auch ich blieb nicht verschont, wodurch ich im
Verlauf der Woche gezwungenermassen “Ana misch doctora” (Ich bin
nicht Ärztin), “Barefisch” (Ich weiss nicht) und weitere
nützliche Entschuldigungen meinem Arabischwortschatz beifügte.
Die Arbeit im Krankenhaus war extrem
spannend und ungewohnt für mich. Und auch meine Anwesenheit war
ungewohnt für die Ärzte und Pfleger. Zwar ist die ganze
medizinische Terminologie auf Englisch, jedoch sprechen viele Ärzte
ausser dieser Begriffe kein weiteres Englisch. So viel es mir oftmals
schwer mit meinem deutschen Wortschatz vorallem die Abkürzungen zu
verstehen und wenn ich dann genaueres Wissen wollte zu gewissen
Krankheitsbildern, konnten viele nicht weiter erklären.
Glücklicherweise fand ich jedoch zu Beginn einige tolle Ärzte die
sich die Zeit nahmen und in gutem Englisch und mit aufschlussreichen
Zeichnungen mir gerne erklärten. Ausserdem liessen sie mich
Blutproben nehmen (von wegen Vakuumröhrchen, Desinfektionsmittel und
Abbindgurte, alles einfach, improvisiert und hmmm für unsere
Verhältnisse ziemlich unhygienisch und unter wenig Privatsphäre)
und ich durfte sogar meine ersten Stiche nähen!! Von
Lungenentzündungen, Herzinfarkte und Asthma über Hernien und
Beinbrüche bis zu Psychosen traf man alles auf der Notfallstation
an. Hier einige Details die mir besonders in Erinnerung blieben:
- Das Sterilium brachte ich aus meiner Reiseapotheke mit ins Krankenhaus, da ich fast nirgends welches finden konnte.
- Trotz dem Schild das beim Eingang das Mitbringen von Waffen in den ER verbietet – ich habe noch nirgends so viele Waffen und so viel Polizei gesehen, meist als Begleitung von Gefangenen, die hier behandelt wurden.
- Sowas wie Mittagessen oder Freizeit exisitiert bei den Ärzten nicht. Die einzigen Pausen die Eingehalten werden sind Rauchpausen, denn fast alle Ärzte rauchen hier!
- Die Behandlung eines Patienten beinhaltet Beratung, Beruhigung und Abwimmeln seiner gesamten Familie, denn geht man hier ins Krankenhaus, begleiten einem mindestens drei Familienmitglieder (anfangs, Tendenz steigend im Verlauf).
- Die meisten Krankheiten treten hier in fortgeschritteneren Formen auf, da die Leute warten und warten und warten... bis sie mal zum Arzt gehen.
- RTA steht für “Road Traffic Accident” und ist genaugenommen die Ursache für den Besuch ca jedes 3. Patienten im ER.
- Viele Ärzte sprechen perfektes Russisch, da sie in Russland oder der Ukraine studiert haben, die andere Hälfte hat in Ägypten studiert.
- Ein Arzt im Ramallah Hospital verdient monatlich ca 1200 CHF, die Lebensunterhaltskosten sind teilweise vergleichbar mit Deutschland
- Die meisten Ärzte haben ein Teil ihrer Ausbildung im Ramallah Hospital absolviert, da dies das grösste Krankenhaus mit den intensivsten Fällen ist.
- Komplizierte Operationen, z.B. Im Bereich Neurochirurgie müssen nach Israel transferiert werden, wegen fehlendem Equipment und daher auch fehlender Erfahrung der Spezialisten.
- Exzessives Shisha-rauchen (wie das hier praktisch jeder macht) wird grosszügig nicht als Risikofaktor für Lungenerkrankungen erachtet.
Die Woche im “Al-Sheikh Zayed”-
Krankenhaus war eine spannende Erfahrung für mich. Oftmals ging es
sehr intensiv und chaotisch zu und her, natürlich auf arabisch,
weshalb es für mich schwierig ist eine objektive Beurteilung
wahrzunehmen. Sehr beeindruckt hat mich das Wissen der jungen
Assistenzärzte, die jegliche Differentialdiagnosen und Symptome der
Krankheitsbilder aufzählen konnten. Frustrierend war für mich zu
sehen, dass das gute medizinische Knowhow sich gegen fehlendes
Equipment oftmals nicht durchsetzten kann. Der Umgang mit den
Patienten ist teilweise sehr schwierig, da diese ein fehlendes
Gesundheitsverständnis haben und deshalb eher auf die anwesenden
Familienmitglieder vertrauen als auf die Ärzte. Aber auch von Seiten
der Ärzte kommt es durch die schwierigen Arbeitszumstände, fehlende
Sensibilisierung für das Konzept ihrer Patienten und Zeitdruck zu
einem autoritären und barschem Auftreten, was nicht hilfreich ist.
Einmal mehr habe ich gesehen wie sich die Schwierigkeiten der
israelischen Besatzung aber auch der Korruption der palästinensischen
Regierung in jeglichen Bereichen manifestiert. Solange sich diese
Situation nicht ändert ist es dem palästinensischen
Gesundheitssystem nicht möglich ihre gebildeten und engagierten
Ärzte zu halten, wodurch weiterhin viele Spezialisten versuchen ins
Ausland abzuwandern, da die Job und Lebensstandard dort lukrativer
ist. Die Leittragenden sind schlussendlich wie zumeist die einfachen
Leute, die sich keine Privatklinik leisten können.
Beim Rausgehen werfe ich einen letzten
Blick auf die drei jungen Männer, die mich nun jeden Morgen stumm
von ihren Plakaten begrüsst haben – Opfer einer israelischen
Razzia, die mitten in der Nacht das Refugee-Camp nebenan gestürmt
haben und dabei mehrere Leute verletzt und 3 Menschen getötet haben.
Die Ärtze haben mir davon berichtet: “wie im Krieg”, haben sie
gesagt. Erinnert ihr euch wo Ramallah in meinen letzten Eintrag über
Area A, B, C lag? Genau, Area A – volle palästinensische
Kontrolle... alles nur Theorie!
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